Veröffentlicht am Jun 22, 2020 von
Dominic Burucker,
Punk seit 2018.
Dominics Fokus liegt auf agent of change & servant leader.
Wir Coaches reden gern über ein “Arsenal von Tools” welches wir anwenden können um Probleme von gewissen Personen und/oder Personengruppen zu lösen.
Im Endeffekt beginnt glaube ich jeder angehende Coach, egal wo, damit Techniken zu lernen um mit vermeintlich fremden Personen neue Perspektiven auf Problemstellungen aufzudecken. Oder, und noch viel wichtiger, wahre Probleme an die Oberfläche zu holen.
Ich hole jetzt mal (m)ein Problem mit der Coachingszene an die Oberfläche (ganz ohne Tools):
Ich rede nicht lange um den heißen Brei, ich bin kein Fan vom gegenwärtigen Kapitalismus. Ich denke nicht das "der" Kapitalismus als sozio-ökonomische Realität per se schlecht ist… ABER:
Der (moderne) Kapitalismus mit seiner emotionalen, service-basierten Marketingmaschinerie hat eine unangenehme Angewohnheit:
Er ist parasitär. Er ist ultimativ betrachtet gleichgültig. Und er hat es geschafft das ein Großteil der agilen Bewegung parasitär geworden ist. Bedeutet: Anstatt das Berater und Kunde eine symbiotische Beziehung haben, geht es einfach darum auf einem immer stärker umkämpften Markt, die beste Sales Maschine zu haben um den x-ten unoriginellen, normierten Workshop zu verkaufen.
Die agile Bewegung ist in ihrem Kern passionsgetrieben, es geht ja schlichtweg darum wie wir täglich zusammenarbeiten (ja die Wurzeln liegen in der Softwareentwicklung, was mittlerweile oft vergessen wird, aber der industrielle Komplex rund um “Agile” ist weit größer und breiter). Ein großer Teil der agilen Arbeit dreht sich um das Thema Arbeitsumfeld und Arbeitskultur. Der Mensch in seiner Arbeitsumgebung. Hierarchien, Autonomie, Firmenpolitik, Produktivität. Alles soziologisch und ökonomisch bedeutsame Themen die am Arbeitsplatz eine Rolle spielen (ob man will oder nicht).
So weit, so theoretisch. Im Kern dreht sich der “agile Gedanke” um die Idee, dass die alten Strukturen nicht mehr funktionieren (begonnen in dem Konflikt der Software Entwicklung mit traditionellen Management-Methoden). Die Idee des agilen Arbeitens hat sich (das lässt sich denke ich sagen) zunächst durchgesetzt. Und damit auch einen starken Einfluss auf den Markt und die Firmen. Diese wiederum haben ein Problem:
Agile ist wohl das was wir brauchen um wettbewerbsfähig zu bleiben. Wie kriegen wir das in unsere Strukturen gepresst ohne auf unsere Strukturen (oder auf die Vorteile die die Strukturen gewissen Rollen bringen) zu verzichten.
Das hat wiederum dazu geführt dass man das tut, was man tut wenn man überfordert oder zu faul ist: Outsourcing an all jene die sich als Experten vermarkten.
Und wo Nachfrage, da auch Angebot. Heute wird LinkedIn regelrecht geflutet:
“WIR MACHEN DICH ZUM ZUKUNFTSFÄHIGEN LEADER.” “WIR ENTDECKEN DEINE POTENTIALE!” “WIR HELFEN DIR SYSTEMATISCH ZUM ERFOLG!"
Folgende Frage:
Wie glaubst du würden Soldaten auf jemanden reagieren der ihnen erzählt wie Sie auf dem Schlachtfeld agieren sollen, ohne selbst jemals in einer Schlacht gewesen zu sein? Ohne selbst die Realität des Krieges erlebt zu haben?
Auch ein Militär hat Rollen, Tools, Strukturen. Kriege haben Iterationen. Wenn wir bei der Metapher bleiben dann wär der agile Coach oder Scrum Master wohl am ehesten ein Bote und Ersthelfer oder “intern Intelligence”. Er sorgt für die Kommunikation, das Bereitstellen von wichtiger Information und die Transparenz um auf Basis eines gemeinsamen Plans agieren zu können. Wenn sich jemand verletzt, leistet er Hilfe und verarztet auch mal.
Er sitzt nicht daheim und hört vom Schlachtfeldgeschehen im Radio und verkauft dann Lösungen die er fernab der Realität daheim ausgetüftelt hat für Soldaten auf dem Schlachtfeld.
Lösungen ergeben sich vor allem im Alltag, in den kleinen Fortschritten, im Kennenlernen, im Verstehen und vor allem im dran bleiben. Nachhaltige Veränderung, oder Evolution wird in den allermeisten Fällen nicht durch Impulse umgesetzt.
Eine Session zu Thema XY reicht niemals aus, die Leute werden es einfach nicht gezielt verfolgen oder es vergessen. Punkt. Redet euch das nicht ein. Lasst es euch nicht einreden.
Die Leute, die Consulting-Firmen führen, wollen euch etwas verkaufen, sie leben davon Geld mit der Beratungsleistung Geld zu generieren, sie leben von euren Problemen. Und das ist erstmal völlig ok, wenn Nachfrage besteht.
Aber wem traust du mehr zu dein Problem wirklich zu lösen? Demjenigen der nicht zwanghaft auf deine Kohle angewiesen ist und selber kontinuierliche Erfahrungen in Firmen gemacht hat und macht, oder demjenigen der das Geld braucht zum überleben und, weil er ja nicht auf dem Schlachtfeld ist, nur von der Theorie wissen beziehen kann?
Goldmann-Sachs halt mal ihm Rahmen einer Bio-Tech Analyse gefragt ob es eigentlich ein ökonomisch wertvolles Geschäftsmodell ist kranke Patienten zu heilen, wenn man doch viel mehr damit verdient sie zu behandeln. Nur so als Denkanstoß.
Hier gehts zum Artikel: Is curing patients a sustainable business model?
Was ist also unser “größtes Learning?”
Problemlösung ist etwas sehr motivationsabhängiges. Warum willst du eigentlich das Problem lösen? Für wen? Hat der jenige überhaupt ein echtes Problem? Kannst du es überhaupt lösen? Welchen Purpose siehst du dahinter? Was ist deine intrinsische Motivation?
Die meisten stellen sich diese Frage nicht, denn sie leben vom Consulting als einzige Geldeinnahmequelle und das ändert alles. Natürlich ist es auch völlig ok sein Geld mit dem Anspruch zu verdienen mit der eigenen Expertise die Probleme anderer zu lösen. Unsere Gesellschaft hat dafür auch einen massiven Markt mittlerweile.
Die Frage ist doch: Woher kommt diese Expertise? Zertifikate und Theorie können gute Wege zum Einstieg sein, aber ich glaube nicht, dass sie jemanden direkt befähigen, Menschen, die selbst mit Eigenkapital oder langfristiger Erfahrung in ihrem Gebiet unterwegs sind, zu coachen oder zu beraten - Theorie ist nicht die Realität.
Also sollten Coaches vielleicht einfach auch wirklich ausgebildet werden? In Betrieben? Ich verstehe persönlich sowieso nicht warum man einfach Coach sein kann ohne quasi zumindest “dual” zu arbeiten. Theorie als konstante Weiterbildung, und Meet-Ups sind sicherlich eine essentielle Ergänzung um sich selbst zu fördern. Aber der Kern ist doch die Erfahrung, die man in Firmen sammelt, welche langfristig neue Arbeitsmethoden adaptieren wollen oder sollten.
Gerade scheint einfach der Markt zu explodieren wenn man sich anschaut wie viele “Erfolgscoaches” usw. aus dem Boden schiessen. Sie alle betreiben exzessiv Werbung auf den einschlägigen Plattformen, weil sie, um zu überleben, Kunden generieren müssen. Diese Art der Beratung kann schon als “Impuls” funktionieren, ich denke nur nicht, dass sie nachhaltig ist. Und wenn dadurch der Trend verfliegt, weil auf sofortigen Erfolg gebaut wird anstatt auf nachhaltigen, wird auf den nächsten Zug aufgesprungen, anstatt dauerhaft daran beteiligt zu sein, diese Modelle und Frameworks im echten Leben zu erproben und weiter zu entwickeln.
Daher mein Lösungsansatz: Firmen sollten darauf achten wo und welche Erfahrung die Coaches die sie zur Beratung heranziehen wollen gemacht haben und Zertifikate als sekundäres Kriterium betrachten. Coaches sollten eher eine Hands-On-Ausbildung durchlaufen mit echter, langfristiger Firmenerfahrung, anstatt sich auf Buzzwords und Zertifikate als Legitimation zu stützen.
Wie das ganze in der Praxis aussehen könnte ist der Stoff für einen weiteren Artikel.