Veröffentlicht am Feb 23, 2022 von
Ralph Cibis,
Punk seit 2016.
Ralphs Fokus liegt auf leadership & purpose.
Mein Vorsatz für 2022 begann wie alle guten Vorsätze natürlich im Januar. Der motivierte Ralph hatte endlich mal wieder Bock drauf mehr zu lesen und weniger zu scrollen. Nachdem ich trotzdem viel gescrolled habe, hat es bis diese Woche gedauert mein erstes Buch des Jahres abzuschließen. Dennoch hat’s mich so gepackt, dass ich grade vor meiner Tastatur sitze und überlege, ob ich das Ende des Buches in einen Blogbeitrag packen kann.
Rutger Bregman schreibt auf ein paar mehr als 400 Seiten darüber, dass unser Menschenbild viel zu negativ und mittlerweile, empirisch belegt, komplett unrealistisch ist. Mit vielen Geschichten und auch mit viel Geschichte fordert er die Leser auf, ihre Ansichten über andere Menschen zu überdenken und erzählt etwas, dass ich spätestens seit Factfulness und Reinventing Organizations sowieso vermutet habe: Menschen sind im Grunde gut. Am Ende gibt er uns ein paar Lebensregeln mit, die sich so anfühlen, als könnten sie auch im wirren Büroalltag, zwischen Workshops, Sprintplannings und PowerPoint Slides Bestand haben und uns helfen weiterzukommen.
Was jetzt kommt ist keine Zusammenfassung des Buches. Ich versuche mir eher mal ein paar Gedanken zu machen, ob, naja, was ich gerade geschrieben habe.
Ja. Lange vor dem Buch hat uns Hanlon’s Razor gelehrt, dass nichts mit Böswilligkeit erklärt werden sollte, was mit Unwissenheit auch erklärt werden kann. Die letzten Jahre und auch viel, worüber wir hier im Blog berichtet haben, bestätigen das. Aluhüte werden gebaut, weil Menschen oftmals Kontext fehlt. Weil gedacht wurde, dass einmal erklären reicht. Gerüchte entstehen, wenn Transparenz und Komminukation zu kurz kommen. Menschen meinen das nicht böse. Aber es wird nunmal gerne geraten und sich Gedanken gemacht. Ein wichtiger Aspekt von Leadership hierbei ist der Vertrauensvorschuss.
Ich werde niemals einem Teammitglied Böswilligkeit unterstellen, wenn ich Verhalten auf fehlenden Kontext zurückführen kann.
Klassischer Stromberg. Ein Win für Bernd und einer für Bernd. Aber Spaß beiseite. In vielen Organisationen zeigt sich immer wieder, dass Dinge nur auf Kosten anderer passieren können. Bzw. auch oftmals gar nicht darüber nachgedacht wird, dass eigentlich(tm) alle profitieren könnten, wenn eine Entscheidung gemeinsam getroffen wird. Aber überlegen wir doch mal: Wenn wir unseren Kund:innen etwas gutes tun, dann wird uns das als Organisation auch gut tun. Wenn sich ein Scrum Team zusammentut, um gemeinsam mit Stakeholdern zu planen, besteht am Ende eine höhere Chance, dass etwas erschaffen wird, das beiden Parteien gefällt und Spaß macht.
Vielleicht wird dann auch der Punkt erreicht, an dem über sinnstiftende Arbeit gesprochen werden darf.
Auch das ist ein No-Brainer. In Führungskräfte-Schulungen, egal wie oldschool sie sind, wird sehr schnell gelehrt, dass keine Suggestivfragen gestellt werden sollten. Immer offene Fragen stellen, die mit einem „was“ oder „wie“ beginnen. Manchmal auch ein „warum,“ hier sollte aber Acht gegeben werden, sein Gegenüber nicht in eine Rechtfertigung zu treiben.
Die richtigen Fragen zum richtigen Zeitpunkt sind das A und O guter Leadership. Sie sind das, was jede Coach-Rolle verinnerlicht haben sollte. Sie sind die Grundlage guter Zusammenarbeit. Jedes Teammitglied sollte sich zu jedem Zeitpunkt sicher genug fühlen, alles zu hinterfragen und selbst offene Fragen zu stellen. Klar, der Diskurs wird länger dauern und es ist anstrengend Rede und Antwort zu stehen. Aber hinten raus gibt das Sicherheit, Kontext und vielleicht sogar nochmal eine Schippe drauf bei der (ich wiederhole mich) sinnstiftenden Arbeit.
Endlich hab ich auch den Unterschied mal verstanden. Empathisch bist du, wenn du den Schmerz einer Person teilst. Mitfühlend bist du, wenn du ihn verstehst. In vielen Lebensläufen lese ich regelmäßig „ich bin superempathisch, bitte stell mich ein!“ Aber ist das erstrebenswert? Will ich einen agilen Coach in meinem Team, der niedergeschlagen ist, wenn es seinem Team schlecht geht?
Natürlich nicht. Ich möchte jemanden, der die Bedenken und Probleme des Teams versteht und mit genau diesem Verständnis dabei unterstützt, sie aus dem Weg zu schaffen. Vielleicht ist das auch - vor allem in Bewerbungsgesprächen zu People-fokussierten Rollen - eine gute Einstiegsfrage.
Die 5 Dysfunctions of a Team lehren uns, dass es ohne konfliktreiche Diskussion auch kein Commitment geben kann. Es ist immens wichtig, seine eigenen Bedenken komplett äußern zu dürfen, wenn man selbst anderer Meinung als das Gegenüber ist. Aber genauso wichtig ist es, sein Gegenüber zu verstehen. Im Kontext von Organisationen und Teams bedeutet das oft, auch Entscheidungen mitzutragen, die einem selbst nicht wirklich taugen.
Das setzt aber voraus, dass es vorher einen Dialog gab und beide (oder wie viele auch immer) Seiten zu einer anstehenden Entscheidung gehört wurden. Ein Team kann gut funktionieren, wenn nicht alle Teammitglieder Verständnis für eine Entscheidung aufbringen. Aber es kann nicht funktionieren, wenn die Teammitglieder eine Entscheidung nicht verstehen.
Schwierig. Ich würde hier trotzdem mal beim klassischen Leitsatz bleiben und erstmal ein „don’t fuck the company“ in den Raum stellen. Aber hey, was da mitschwingt ist im Arbeitsalltag allen voran ein „sei halt einfach kein A****loch.“ Das ist wichtig. Im Bereich der Leadership hilft es, möglichst berechenbar zu sein. Keinen Unterschied darin zu machen, mit welchem Teammitglied oder vor welcher Gruppe gesprochen wird. Wer es schafft eine kontinuierliche Integrität (Randy Marsh nennt das Tegridy) zu wahren und 3 Personen nicht 4 verschiedene Wahrheiten erzählt, läuft in die richtige Richtung.
Und versteht mich nicht falsch: das ist schwieriger als gedacht. Ich erwische mich oft dabei, die 100%-Integritätsskala zu reißen. Aber mit jedem Mal erwischen versuche ich selbst auch besser darin zu werden.
In der großen, weiten Welt auf jeden Fall kein schlechter Tipp. Viel zu viel komprimierte Negativität prasselt täglich von zu vielen verschiedenen Quellen auf uns ein. Ich könnte jetzt hier auf Company News oder Wirtschaftsnachrichten eingehen, um es etwas in den Organisationskontext zu rücken.
Aber ich denke, die bessere Analogie ist es, die Zyniker im Büroalltag zu meiden. All diejenigen, die jedes Wort, dass sie irgendwo aufschnappen, direkt schwarzmalen. Alle die lieber 3h Workshop nutzen, um eine Liste mit Dingen aufzuschreiben, die dein Vorhaben in jeglichen Extremszenarien zum Scheitern bringen. Sie könnten natürlich auch versuchen, mit dir einen Lösungsraum zu erschließen. Aber wo bleibt da der Spaß? Und dann müsste ja auch noch wirklich gearbeitet werden. Neee... machen wir nicht. Im Buch steht „Zynismus ist ein anderes Wort für Faulheit.“ I’d put my John Hancock below this one.
Das ist unser täglich Brot als agile Coaches. Einerseits haben wir im mittleren Management einer jeden Firma unsere persönlichen „Feinde.“ Andererseits sind wir es, die zwei verbitterten Gegnern dabei helfen müssen, aufeinander zuzugehen und Feuer nicht mit Feuer zu erwidern, sondern mit ein paar Burgern, um zu grillen.
Manchmal sind alte Feden heftig und die Wunden tief. Hier Hilfe anzubieten und auch am Ball zu bleiben ist die beste Unterstützung, die wir als Coaches geben können. Doch was, wenn wir selbst ins Fadenkreuz unserer Feinde kommen. Was, wenn es mal wieder darum geht, was Manager eigentlich in einer agilen Organisation machen sollen? Ganz einfach: Begegnet euren Kontrahent:innen auf Augenhöhe. Nehmt sie mit auf euren Weg und lernt ihre Sprache. Respektiert ihre Kultur und tauscht euch darüber aus, wie ein Platz in einer anderen Welt (wollte nicht „neue Welt“ schreiben. Das klingt abgedroschen) aussehen kann.
Agile Coaches müssen Diplomatie leben und vorleben.
Der klassische Alman, aber eigentlich auch der klassische Mensch, rechtfertigt sich, sobald er oder sie etwas gutes getan hat. Weil sonst könnte das Gegenüber ja vermuten, es wurde aus irgendeinem Eigennutzen oder einer versteckten Agenda getan. Die Scham ist groß und Alman-Annette erzählt dir 20 Minuten aus welchen Gründen sie es sich leisten konnte 100€ an die Johanniter zu spenden.
Das ist Blödsinn. Wer gutes tut soll dafür kein Misstrauen ernten. Der Klassiker im Büro ist da wahrscheinlich das „ach, der schleimt sich da jetzt nur ein.“ Der Legende nach gibt es Menschen, die gerne etwas gutes tun ohne davon direkt zu profitieren. Und selbst wenn Egoismus unterstellt wird: so what?! Die Handlung hat vielleicht trotzdem zu einer besseren Welt oder einem besseren Team geführt. Kurzgesagt hat ein cooles Video zu egoistischem Altruismus gemacht und kommt zu dem Schluss, dass es uns allen besser geht, wenn wir regelmäßig gutes tun. Und dass wir als Gesellschaft davon profitieren. Warum also sollten wir uns schämen gutes in unserer Organisation zu tun? Fragt auch mal eure:n Chef:in, wie’s so geht. Schaut nicht auf Leute herab, die vielleicht weniger verdienen als ihr. Seid gut und geht bei allen anderen auch davon aus. Punkt.
Noch ein Klassiker zum Schluss. Auch mit kleinen Schrittchen kann langfristig viel bewegt werden. Vielleicht verursacht deine nächste Miniveränderung eine Lawine und nach 1-2 Jahren zahlt sich der Zinseszinseffekt aus und du findest dich in einer Organisation wieder, von der du vor diesen 1-2 Jahren nur geträumt hast.
Was hält dich auf? Die Zeit der Zyniker und Idealistinnen ist vorbei. Vielleicht begründen wir einfach einen agilen Realismus oder endlich eine reale Agilität. Eine Form von guter und sinnstiftender Zusammenarbeit, die keiner Ideologie untergeordnet ist. Ein kleiner Funke Inspiration, der sich jeden Tag ein paar Millimeter weiterentwickelt und ausbreitet. Eine Welt, in der es nicht schlimm ist, gut zu sein und davon auszugehen, dass alle anderen auch gut sind. Was haben wir zu verlieren? Unseren Zynismus und unser Misstrauen? Das ist ein Preis, den ich gerne bezahlen würde. Cash. Nicht auf Raten.