Diplomatie, oder: wie Rollen sich ändern

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Veröffentlicht am Sep 8, 2021 von
Ralph Cibis, Punk seit 2016.
Ralphs Fokus liegt auf leadership & purpose.


Diplomatie, oder: wie Rollen sich ändern

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Tapas teilen erfordert ein hohes Maß an Diplomatie, 2021, coloriert.

Was macht eigentlich dieses Agile gerade so? Scrum Master mastern Scrum, agile Coaches coachen agile, Design Thinker:innen denken Design, PO o-en Ps. Und nun? Ist jetzt endlich jede Organisation am Ziel und delivered den nötigen Value 24/7 oder zumindest 9-5? Nicht wirklich. Aber um zu sehen, wo wir gerade stehen, müssen wir kurz mal zurückblicken, wo wir denn herkommen.

Eine kurze Geschichte der Zeit

Während ich darüber nachdenke, wo wir herkommen entfalltet sich ein schwarz-weißer Schlachtfeldrückblick nach dem anderen. Konzerne wollten wie Startups sein, haben es nicht geschafft, haben ihre Speed-Boat-Einheiten ausgegründet, haben es nicht geschafft, haben dann einfach SAFe oder Flight Levels gekauft und tüfteln damit herum. Startups erkannten, dass sie gegen die Big Four und die zehn darunter kaum eine Chance haben ihr better-done-than-perfect-Mindset in Konzerne zu tragen und schlichen sich deshalb Stück für Stück an den Mittelstand heran. Firmen bildeten Armeen an Ex-Projektmanager:innen zu Scrum Mastern, POs oder anderen Meta-Rollen á la Release Train Engineer oder Agile Manager aus. Die Transformation war in vollem Gange, auf jeder PowerPoint-Slide konnte das begutachtet werden. Die Digitalisierung digitalisierte Papier. Wir transformierten das Faxgerät zum Scanner und verschickten diese Scans plötzlich per Email. Manchmal kamen sie an, manchmal hatten die Empfänger:innen noch keine Firmen-Emailadresse.

Es war eine schöne Zeit. Damals, als wir transformierten. Als wir agil wurden. Als es noch weiße Wände gab, um Postits zu kleben und es für einen Aha-Moment reichte, den Menschen zu erzählen, dass sie in kurzen Zyklen, basierend auf Daten und Erkenntnissen, bessere Entscheidungen treffen konnten, als mit unglaublich langen Plänen und sehr straffen Zügeln in der Hand. Es fühlte sich traumhaft an, nach einem Einführungsworkshop in Scrum ein paar Schulterklopfer zu bekommen. Und lasst uns nicht vergessen, dass irgendwann auch mal Retrospektiven á la „dein Sprint als Tweets“ oder „dein Sprint als Amazon-Review“ cool waren. Lasst es uns nicht vergessen. Und denkt an das Segelboot. Was gab uns Rückenwind? Was war der Anker? Was... ach wie schön das war.

Willkommen im Heute

Doch was ist davon übrig geblieben? Was hat sich rauskristallisiert? Was waren die Learnings dieser Zeit? Nun... Ich will euch zumindest dahin mitnehmen, wo mich diese Momente, diese Methoden und diese Erfahrungen hingebracht haben.

Die Methoden

Viele Werkzeugkästen haben ihre Daseinsberechtigung, denn sie bieten - wie der Name schon sagt - die passenden Werkzeuge für bestimmte Situationen und Prozesse. Jede Methode fühlt sich, richtig eingesetzt, gut an, wenn sie das erste Mal angewendet wird. Teilnehmende in Workshops können damit zielführend zu Ergebnissen geleitet werden und... ach, du willst das nächste mal die gleiche Methode anwenden? Schwierig. Das war doch echt viel Aufwand.

Es sind nicht die Methoden, die immer wieder zum Ziel führen. Doch sie helfen initial dabei Gruppen zu koordinieren und Eis zu brechen. Die Realität zeigt aber, dass eingegroovte Gruppen & Teams auch ohne verspielte Hilfestellungen zum Ziel kommen können.

Die Momente

Wie sieht denn das typische Setting aus, das mit einem Werkzeugkasten und einem überteuerten Schlüsseldienst (hahaha Seitenhieb an die Berater!) aufgebrochen werden muss? Meistens befindet sich dieses Setting direkt innerhalb irgendeiner aufgezwungenen Transformation. Leute sind eingeschüchtert, haben in irgendeiner zusammengewürfelten Konstellation noch nicht zusammengearbeitet und werden im schlimmsten Falle auch noch aus ihrer Komfortzone gezerrt. Da ist’s natürlich wichtig, die richtigen Werkzeuge, eben die Methoden, parat zu haben und darauf zu reagieren. Das gehört dazu, aber vor allem wenn es auf’s Schlachtfeld geht, weg von den sicheren Räumen eines Workshops, wird benutztes schnell wieder vergessen.

Die Erfahrung

Deswegen bleibt die Frage: was machen wir mit der Erkenntnis? Wo kann angesetzt werden, wenn Methoden nicht immer nachhaltig sind und wenn deren Anwendung nicht 100% nachhaltig ist? Es ist die Erfahrung, die für diejenigen resultiert, deren Auftrag es ist Workshops abzuhalten, Teams zu begleiten und Organisationen zu entwickeln. Und diese Erfahrung bestätigt, was von vielen Coaches, von vielen New Work Vertreterinnen und von vielen Vorständen nicht gesehen werden will. Die Politik. Egal, wie groß eine Organisation ist, an vielen Stellen werden Dinge politisch geregelt. Das ist nicht immer geil, aber es ist die Realität. Wie die Politik entsteht werde ich hier nicht erklären. Das wisst ihr selbst. Wir sind täglich alle Teil davon. Genau aus diesem Grund ist es für Personen in unseren Rollen - ich zähle da vor allem die agile Dampfmaschine dazu - mehr und mehr zu Diplomaten und Diplomatinnen zu werden.

Neue, alte Aufgaben

Am Ende stehen wir wieder vor dem Zwischenmenschlichen. Wenn wir gemeinsam den Pfad über Methoden, Tools, Frameworks, Organigramme und Transformationen gewandert sind, kommen wir an der Taverne zur guten Kommunikation an. Wir bewerfen uns vor der Tür nochmal kurz mit Allgemeinplätzchen á la „man kann nicht nicht kommunizieren“ und lassen die Vergangenheit Vergangenheit sein. Wir gehen in die Taverne rein. Wir sehen Stammtisch 1 und Stammtisch 2, die übereinander lästern. Wir treffen den betrunkenen Onkel, der auf der Familienfeier über die Leute vom Nachbartisch herzieht, obwohl eine gute Beziehung zu ihnen relevant für sein eigenes Weiterkommen und Überleben wären. Wir beobachten die Besitzerin hinter der Theke, die sich die traurigen Geschichten der frisch geschiedenen Frau auf dem Barhocker anhört. Ihr könnt euch wahrscheinlich selbst auch noch 1-2 Situationen dazu denken.

Die Taverne steckt voller Konfliktpotential. Wenn da jetzt auch noch wer fremdes reinkommt. Wer weiß, wie lange der wacklige Frieden noch gewahrt werden kann. Und hier kommen wir ins Spiel. Die Herausforderung ist nicht dem Onkel Design Thinking beizubringen oder Stammtisch 1 in Scrum zu coachen. Die Herausforderung ist die verschiedenen Konfliktparteien (manchmal wissen die gar nicht, dass sie einen Konflikt haben), dabei zu begleiten, sich zusammenzusetzen und Erwartungsmanagement zu betreiben. Vor allem im Großen ist die Ära der radikalen Veränderungen erstmal vorbei. Es zeigt sich, dass die Diplomatie, die Kunst Menschen auf Augenhöhe zusammenzubringen und im Dialog zu Lösungen zu führen, den wirklichen Nährboden für die ganzen fiesen Begriffe der digitalen Transformation schafft. Dieses eklige Wort Synergie mag anfangs nicht schmecken. Alle Berater:innen dieser Welt haben es über jeden Flur in jedem Konzern geschleift. Der Abbau von Silos und der zeitgleiche Aufbau cross-funktionaler Teams funktioniert nicht außerhalb der Blueprints, wenn nicht die Stimmen und Erwartungen aller Beteiligten gehört wurden.

Es geht nicht darum, es allen recht zu machen. Der Traum der innovativen Arbeitswelt, in der alle Mitarbeitenden auf der grünen Wiese jeden Tag die nächste Disruption hochzüchten, ist... ja... ein Traum. Es geht darum, die Menschen dabei zu begleiten ihre Erwartungen (und Ängste, Wehwehchen, ihr kennt das alles...) klar kommunizieren zu können und zwar gegenüber den richtigen Empfäner:innen. Es geht darum zu lehren und zu coachen, wie Kompromisse gefunden werden können, die eine nachhaltige Grundlage für zukünftige Zusammenarbeit schaffen. Und es geht darum, am Ball zu bleiben und mit den Menschen auch die zweite, dritte, n-te Iteration dieses Dialogs konstruktiv zu beschreiten.

Die Evolution der eigenen Meinung

Ich bin diesen Pfad selbst gegangen. Es ist erstaunlich wie sehr man sich selbst zwischen Methoden, Tools und Workshops bewegt und dann immer mal wieder die Möglichkeit hat ein Meta-Thema, wie die Diplomatie, für sich zu entdecken. Wenn ich Organisationen einen Rat geben müsste, dann würde ich Stand heute empfehlen, mehr Menschen in diesen Diplomatie-Rollen anzustellen. Die Welt wird komplexer, Technolgie wird unverständlicher, kaum wer hat noch die geistige Kapazität alles auf einem so detaillierten Level zu verstehen, um genug andere Perspektiven einzunehmen. Entsprechend ist es wichtig mehr Menschen zu finden, die Schnittstellen betreuen (nicht abbilden). Deren Aufgabe ist es die Menschen, die die Schnittstellen abbilden (nicht betreuen) dabei zu unterstützen gemeinsame Sprachen, den richtigen und regelmäßigen Dialog, sowie die nötige Feinfühligkeit bezüglich gegenseitigen Erwartungen zu finden. Vielleicht war der Weg dahin eine Evolution. Das ganze in Organisationen zu verankern und zu leben kann auch Revolution bedeuten.