Briefe für Oma - Grundlagen zur Selbstreflektion
Meine Oma hört schwer. Sie wird dieses Jahr 89 und wegen meiner natürlich-tiefen Stimme hört sie mich nicht sprechen. Das ist traurig, denn ich kann ihr direkt ins Ohr schreien und sie würde es nicht bemerken, obwohl sie noch ziemlich fit ist.
Alte Probleme benötigen noch ältere Lösungen
Es ist ziemlich nervig durch die Gegend zu schreien, deswegen habe ich beschlossen meiner Oma ab und zu einen Brief zu schreiben. Zuerst das Offensichtliche: Jedes Mal wenn ich ihr schreibe freut sie sich wie ein Schnitzel und ist zu Tränen gerührt, dass sie so viel Neuigkeiten auf einmal über mein Leben erfährt. Sie kann die Briefe auch immer und immer wieder lesen, wann immer sie möchte. Einfach ein großartiges Medium, um persönliche Gedanken zu transportieren und die Generationenlücke zu überwinden. Die Briefe sind natürlich auch mit Bildern und persönlichen Gedanken, zusätzlich zur vielen Prosa, gespickt.
Das nicht-ganz-so-Offensichtliche: Es ist einfach eine geile Möglichkeit über sich selbst zu reflektieren. Nicht unbedingt über die eigene Karriere, aber dennoch auf einer viel wichtigeren Ebene: Führe ich ein Leben auf das ich selbst stolz bin? Bin ich auch noch stolz darauf, wenn ich meiner Oma davon erzähle? Im Grunde geht es um die Frage, ob mein Handeln so ethisch korrekt ist, dass ich aus dem Brief nichts herausfiltern muss.
Ich habe für mich selbst 4 Kernfragen gefunden.
- Ist mein Purpose - meine Daseinsberechtigung - mehr, als Butter zu reichen? Meine Generation (ich glaube als Millennials verpönt) sehnt sich nach Bedeutung in dem was sie tut. Für mich ist das tatsächlich auch immer wichtiger geworden in den letzten Jahren. Die grundlegende Frage, die beantwortet werden muss ist: Was ist die Bedeutung meines Handels und dessen Auswirkung auf die Welt? Ich kann meiner Oma erzählen, dass ich diese Bedeutung darin gefunden habe, Teams zu unterstützen neue und großartige Wege der Zusammenarbeit zu entdecken. Ich verdiene zwar mein Geld damit, aber ich würde es aktuell nicht als "nur einen Job" abstempeln. Für mich ist es mehr. Es macht mir nichts aus nach Feierabend noch mit Menschen darüber zu sprechen. Aktuell integriert sich mein Job so ganzheitlich in mein Leben, dass ich ihn zumindest zur Zeit als meine primäre Daseinsberechtigung bezeichnen würde. Ach ja - meiner Oma kann ich das auch erzählen, ohne dass ich irgendetwas zensieren muss.
- Führe ich das Leben, von dem ich als Kind geträumt habe? Abgesehen von etwas Selbstüberschätzung und dem Fakt, dass es nicht geklappt hat Airline-Pilot zu werden, kann ich meiner Oma erzählen, dass ich doch immer die richtigen Entscheidungen getroffen habe. Wahrscheinlich waren diese Entscheidungen nicht immer die besten für mein Umfeld, aber es waren die Entscheidungen, die ich mit dem Wissen und den Optionen zum damaligen Zeitpunkt treffen konnte. Natürlich ist auch die Antwort zur initialen Frage "nein." Aber ich habe auf jeden Fall die Erkenntnis gewonnen, dass die Realität mehr ist als ein Plan, den man im Kindergarten oder in der Uni schmiedet. Ich kann meiner Oma erzählen, dass ich die Realität so gut ich es kann wahrnehme. Ich kann ihr auch erzählen, dass ich die Konsequenzen meiner Handlungen verstehe, zu 100% dahinter stehe und dafür auch Rechenschaft ablegen würde. Das Leben und die Realität verändern sich ständig. Es ist wichtig zu fühlen und zu reagieren, am besten im Einklang mit der eigenen Daseinsberechtigung.
- Verstehen mich die Leute? Ich schreibe ihr nicht nur über meinen Job. Eigentlich fast nur privaten Kram. Ich erzähle ihr von den Hochzeitsvorbereitungen, von Freunden, die ich getroffen habe und von meinen Urlaubsreisen. Ich erzähle ihr von fremden Kulturen, die ich besuchen durfte und wie sich deren Sicht auf die Welt von unserer unterscheidet. Ich versuche meine fiese Millennialsprache so zu übersetzen, dass sie mich versteht. Das hilft auch immens dabei zu reflektieren, ob andere Menschen außerhalb meiner Filterblase verstehen wovon ich rede. Ich kann schließlich kein guter Coach sein, wenn ich Themen nicht auch in der Muttersprache meiner Kunden erklären kann. Außerdem geben einem die Übersetzungen in einer Welt voller bedeutungsloser Buzzwörter, Akronymen und Methoden ein gutes Maß an Bodenständigkeit zurück. Wenn meine Oma etwas versteht, dann ist die Chance groß, dass es viele andere Menschen auch verstehen.
- Habe ich mich selbst verraten? Meinen Brief auf der Suche nach Schreibfehlern noch 1-2 mal zu lesen, hilft mir auch meine Gedanken zu ordnen. Gibt's einen roten Faden in dem was ich kommuniziere? Ergibt es Sinn, dass ich die Hochzeit mit der Liebe meines Lebens vorbereite? Ist es sinnvoll Teams durch die Komplexität der Realität zu führen? Sollte ich mich wirklich noch mit alten Freunden treffen, die ich manchmal über ein Jahr nicht sehe? Ist es vernünftig stundenlang über den Globus zu fliegen, um fremde Kulturen zu besuchen, mit denen ich wahrscheinlich nie wieder im Alltag Berührungspunkte haben werde? Menschen, die sich diese Fragen stellen, sollten kein schlechtes Gewissen bekommen, wenn sie diese mit "ja" beantworten. Sonst ist es, glaube ich, an der Zeit noch etwas tiefer zu graben und mehr zu reflektieren.
Übrigens hatte ich schon ewig die Idee diesen Artikel zu schreiben. Eigentlich seit ich meiner Oma das erste Mal einen Brief geschrieben habe. Ich war mir immer ein bisschen unsicher, aber die Idee ist geblieben. Ich glaube es ist wichtig, das bestmögliche Leben zu leben und regelmäßig über meine Grundwerte zu reflektieren. Es hilft einfach zu überprüfen, ob meine Oma stolz auf das ist, was ich tue und natürlich auch, ob ich selbst noch stolz bin, wenn ich meiner Oma davon erzählen muss. Wenn Menschen das viel öfter tun würden, bräuchten wir keine Fake-Consulting-Industrie und keine Whistle-Blower, die unethisches Verhalten großer Konzerne oder Regierungen aufdecken müssen. Liebe Vorstände, wärt ihr immer noch stolz auf euer Handeln, wenn ihr eurer Oma davon erzählen müsstet? Oder wäre es doch cooler, wenn ihr Rick einfach nur die Butter reichen würdet?
